Landolf Scherzer
Rubinrote Muster auf silbernem Abendkleid
1970
Die Kälte ist eine vortreffliche Kosmetikerin. Dein Gesicht strahlt in gesundem Rot, und die Haut duftet nach Schnee. Einen halben Tag bist du zusammen mit seiner Majestät dem Winter durch die Thüringer Berge gestapft.
Es ist Nacht geworden. Die Stadt tief unter dir zieht sich die Decke über die Ohren. Doch sie schläft nicht. Nur von hier oben sieht es aus, als ob sie ins Nachthemd schlüpfte und die Augen schlösse. Die kleinen Häuschen in der Stadt gehen anders schlafen als die großen, vielfenstrigen. Wenn ihre zwei oder drei Glühwürmchenlichter erloschen sind, verschluckt die Finsternis das ganze Haus. Die neuen, großen dagegen sind wie der Kopf des Argus - hundert Augen, von denen sich immer nur ein paar schließen, während die anderen wachen.
Bis die Kälte durch die Ledersohlen in die Füße kriecht und den Atem in den Augenbrauen und den Haarspitzen eisig gefangenhält, so lange mußt du in der Nacht stehen. Dann endlich erstirbt auch das letzte Auge.
Aber die Häuser drunten scheinen nur von oben tot. Steigst du hinunter zu ihnen, horchst an ihren Wänden, merkst du, daß sie ihre Lichter löschten und doch weiterleben. Gleich bei uns um die Ecke schnarcht die Vorderfront des Hauses. Ich glaube, es ist der dicke Opa Lindemann. Er hat heute im Stammlokal sein Bier trinken dürfen. Es ist Sonnabend. Kinder schreien. Müdes Gemurmel: "Frau, er soll ruhig sein." Wasserspülung. Leise Musik. Lachen im Dunkel.
Wie tot ist ein Haus, wenn es schläft? So tot wie die Finsternis oder seine Stille? Ich glaube, es ist so lebendig, wie sich seine Menschen "Gute Nacht" sagten: müde von der Arbeit, aber noch ein liebes Wort findend, Vorfreude auf morgen verschenkend. Weder mit den Lippen noch mit den Händen noch mit den Gedanken.
Und ich, was habe ich dir zu erzählen von diesem Tag, diesem 7. Februar 1970?
Schnee war. Und Sonne. Am Boden funkelten Diamanten. Aber es waren die Sonnenstrahlen, die sich an den Kanten der Schneekristalle die Lichtbäuche aufgerissen hatten und ihre Funken herausschütteten.
Die Wiese, auf der noch im Oktober die violetten Herbstzeitlosen die Liebespärchen zum Hinlegen verführten, war unliniert weiß: keine Skispuren, keine Fußstapfen teilten sie. Es macht Spaß, als erster einen knietiefen Pfad hineinzuwaten. Doch als ich drüber war, lief mir der Schweiß. Also erst einmal mit Schnee den Durst stillen. Er schmeckt besser, sagt meine Frau immer, wenn er gerade frisch gefallen ist. Und die leckerste Sorte Schnee gibt es ihrer Meinung nach auf dem Suhler Ringberg.
Ich beginne hinaufzukraxeln. Die Äste, kraftlos und starr vom Eis, knicken, wenn man sie zur Seite biegt, wie Streichhölzer. Ein Hirsch hat sich vor mir den Weg durchs Dickicht gebrochen. Ich folge ihm, trete gehorsam in seine Spuren.
Als unsere Spur das Dickicht verläßt, muß ich nicht mehr zu Boden schauen, um zu wissen, wo der Bursche langgestakt ist. An den Fichtenstämmen, in etwa einem Meter Höhe, hat er entlang seines Weges die Abendmahlzeit gehalten: fein säuberlich abgefressene Rinde. Dabei liegt nebenan in der Krippe duftendes Heu. Hasen haben die Rüben angenagt. Je höher ich steige, um so tiefer wird der Schnee. Die kleinen Fichten recken mühsam ihre stachligen Nasen heraus. Und die alten hat der zentnerschwere Schnee allesamt in die gleiche "Hab-acht-Stellung" gepreßt. Aber nichts vermag diese Last gegen das vorwitzige Lugen der wuschligen Weidenköpfe, die schon die Haare aus dem schwarzen Winterhäuschen stecken. Es wird also doch kommen
Als ich oben stehe auf dem Ringberg und in den Wind hineinschreie, daß er mir die Rufe vom Mund hascht, entdecke ich unseren Hochstand, auf dem wir im Sommer oft saßen, um die heißen Wangen zu kühlen. Er knarrt vor Kälte, und ich möchte ihn in seiner eisigen Einsamkeit etwas trösten. Klettere die Sprossen hoch, die wohl wochenlang niemand betrat, wische den Schnee vom Sitz und sehe ein Märchen.
Im silbernen Abendkleid, mit Gold und Perlen besetzt, träumen Berge und Täler. Ich bleibe und schaue, bis die Sonne rubinrote Muster auf die Hügel malt. Und ich ahne an diesem Tag, dem 7. Februar 1970, ein wenig vom großen Geheimnis um die Schönheit der Thüringer Heimat.
Renne den schon dunklen, steilen Pfad hinunter, falle und kullere, lache und pruste. Bin eins mit dem Schnee, den Bäumen, der Dunkelheit. Dann stehe ich und sehe weit unten, wie die Stadt schlafen geht. Langsam trotte ich die Straße entlang, bis die Häuser mich wieder vor dem Wind verstecken. Und mich die Wärme in der gut geheizten Redaktionsstube den Schnee vergessen lassen will. Auf dem Schreibtisch liegen die Meldungen dieses Tages, dieses 7. Februar 1970.
los angeles. der stabschef des usa-heeres, general westmoreland, hat sich strikt für den verbleib der amerikanischen truppen in vietnam eingesetzt.
dresden. wie auf einer pressekonferenz der interflug mitgeteilt wurde, kann 1970 der direktflug dresden-moskau aufgenommen werden. die flugzeit beträgt drei stunden.
neuhaus. die jugendlichen des röhrenwerkes "anna seghers" sparten durch gute arbeit im letzten monat 80000 mark materialkosten ein.
münchen. die "demokratische aktion" in münchen hat gegen die neonazistische "aktion oder-neisse" strafanzeige wegen kriegshetze gestellt. als beweis für den verfassungsfeindlichen charakter dieser vereinigung von neonazistischen kräften führt die "demokratische aktion" deren jüngste flugblätter an, auf denen mit faschistischen blut-und-boden-parolen ein "neues reich" gefordert wird. dazu sollen die ddr sowie territorien der sowjetunion, volkspolens und der cssr gehören.
die noch jungfräulichen weißen wiesen... die erste knietiefe spur... die weidenkätzchen in ihren schwarzen winterhäuschen...der hirsch, der sich die bäume entlangfraß... die rubinroten muster auf dem silbernen abendkleid der berge...geheimnis um die schönheit der thüringer wälder...
Ich setze mich an den Tisch, die Wangen noch rot von der Kosmetikerin Kälte.
Kaue am Bleistift.
Und beginne zu schreiben.